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Pavel Nordeschenko war zwölf Jahre alt und hatte keine Lust mehr, sich ständig von seinem Vater in die Stadt fahren lassen zu müssen.
Andere Jungs in seinem Alter fuhren mit der U-Bahn. Manchmal, wenn sein Vater auf einer seiner vielen Reisen unterwegs war, ließ ihn seine Mutter mit dem Bus fahren. Dann verbrachte er ein paar Minuten in den belebten, engen Straßen der Altstadt, weit weg von dem weitläufigen Karmel-Center und seiner Straße mit dem unverbauten Ausblick aufs Mittelmeer.
Hier unten, wo Abhramovs Akademie lag, herrschte das pure Leben auf den Straßen! Sie waren erfüllt vom Geruch nach Lederwaren, Gewürzen und arabischen Bäckereien, vom Lärm der Händler, die ihre Waren im Basar feilboten.
Sein Vater war immer überängstlich. Wenn Pavel mit seinen Freunden ins Kino oder an den Strand gehen wollte, sagte Vater immer: »Man kann nie genug aufpassen.« Wovor hatte er solche Angst? Seine Mutter gewährte ihm manchmal einen freien Tag, aber sein Vater brachte ihn jeden Tag in die Akademie, als ginge er zum Religionsunterricht.
»Nächste Woche findet in Tel Aviv ein Turnier statt«, erzählte sein Vater, als sie gemächlich durch die überfüllten Straßen fuhren. »Würdest du gerne teilnehmen?«
Pavel zuckte mit den Schultern. Turniere
bedeuteten Arbeit und mehr Zeit, um sich vorzubereiten.
»Es kommen auch Schachmeister aus anderen Ländern. Sergei denkt, du
bist schon so weit. Was meinst du?«
»Na ja.« Pavel zuckte mit den Schultern. »Wenn er sagt, dass ich so
weit bin.«
Sie bogen auf die Allenby Street. Die Bahai-Gärten standen in
voller Blüte.
»In Caesaria gibt es ein Spielkasino. Auf dem Rückweg könnten wir
anhalten. Man hat mir gesagt, dort wird auch gepokert. Genau wie
bei den Amerikanern. Ich kenne dort einen Mann, der mir noch einen
Gefallen schuldet. Er könnte dich reinlotsen. Nur zum Zuschauen,
versteht sich.«
»Meinst du?«
»Ich weiß nicht.« Sein Vater unterdrückte ein Lächeln. »Ich bin
bekannt dafür, dass ich hier und da ein paar Kontakte
habe.«
Sie bogen auf die Hassan Street, wo vor allem Mopeds und kleinere
Lastwagen fuhren. Und Taxis voller Touristen, die vom Hafen in die
Innenstadt wollten.
Meister Abhramovs Akademie lag über einer Pita-Bäckerei, wo es
immer nach süßem Teig roch. Hier, vor diesem baufälligen Haus,
hielt Nordeschenko an.
»Streng dich an.« Sein Vater blinzelte ihm zu. »Es steht viel auf
dem Spiel.«
Pavel griff zu seinem Laptop und Notizbuch und stieg aus. Wie auf
Wolke sieben schwebte er durch die Haustür. Als er auf die Treppe
zurannte, versperrte ein Mann seinen Weg.
»Ich fürchte, ich habe mich verlaufen«, sagte er. »Weißt du, wo die
Haaretz Street ist?«
Der Mann war groß und sah gut aus. Er trug ein blaues Hemd und eine
Khakihose, die Augen hatte er hinter einer Sonnenbrille versteckt.
Er sprach Englisch wie ein Tourist. Vielleicht war er
Amerikaner.
»Haaretz? Ich glaube, die ist gleich da hinten. Am Ende der
Straße.«
»Kannst du sie mir zeigen?«, bat der Mann. »Ich bin nicht von
hier.«
Abhramov erwartete ihn. Er hatte eineinhalb Stunden Unterricht, und
der mürrische, alte Meister duldete kein Zuspätkommen.
»Gleich hier.« Pavel ging wieder nach draußen und deutete mit dem
Finger in die entsprechende Richtung. »Ganz am Ende. Die Bäckerei.
Sehen Sie sie?«
Das war eins der letzten Dinge, an die er sich erinnerte.
Außer an die Hand, die sich über seinen Mund legte, und den
feuchten Lappen, der nach Chemikalien roch. Und an das Gefühl der
völligen Schwerelosigkeit, als würde ihn jemand tragen.
Und an die Angst, dass sein Vater wütend sein würde, wenn er ihn
abholen kam, er aber nicht da wäre.